Wer das Hopsen nicht lernt, wird das Fliegen nie genießen

Als die norwegischen Schispringer zuschauen mussten, wie ihnen ein Österreicher das Fliegen zeigte

Das waren wohl ziemlich lustige Burschen, da oben im norwegischen Telemarken. Wo andernorts das Schi Fahren noch recht unbekannt war, rutschte die dortige Bergbauernjugend nicht bloß des schnelleren Zu-Tale-Kommens wegen durch den Tiefschnee, sondern gab sich mittels sprungartiger Ausnutzung der geländemäßigen Unebenheiten den ultimativen Kick. Was als Hopserei zum eigenen Gauditum gedacht war, mutierte schon bald zum sportlichen Wettbewerb.
Lange bevor die ganze Sache international wurde und die Gründung der "Fédération Internationale de Ski" (FIS) erforderlich machte, sorgte das Militär für Ordnung, die ersten Wettkämpfe trugen Schisoldaten aus. Der norwegische Leutnant Olaf Rye verpasste bei seinem Satz über einen künstlich aufgeworfenen Schneehügel die 10-m-Marke zwar um einen halben Meter, durfte sich aber darüber freuen, 1808 den ersten nachweislich gemessenen Sprung gestanden zu haben. Wer sich die Arbeit sparen wollte, Schnee aufzuschaufeln, hechtete sich von Hausdächern oder Holzstößen. Und als am Holmenkollen über Oslo bereits eine echte Schanze stand, musste hierzulande noch ein verschneiter Misthaufen herhalten. Am 2. Februar 1893 gewann der in Wien lebende Norweger J. Bismarck Samson das Schispringen im steirischen Mürzzuschlag mit der Bestweite von sechs Metern. Zwar war der Zimmermann Sondre Auverson Nordheim schon 33 Jahre zuvor unglaubliche 30,5 m gesprungen, aber die Misthaufen-Konkurrenz von Mürzzuschlag gilt als Geburtsstunde des Schispringens in Mitteleuropa.
Den Jahrhundert-Rückstand auf die Norweger hatte schlussendlich der Österreicher Sepp "Bubi" Bradl in den 30ern wettgemacht. In nur zweimonatiger Bauzeit war im Herbst 1933 unter der Leitung von Stanko Bloudek und Ivan-Janez Rozman im slowenischen Bergdorf Planica eine moderne Großschanze errichtet worden. Zweieinhalb Jahre später erwarteten Springer und Zuschauer einen packenden Wettkampf – und den ersten Sprung über 100 Meter. 1935 waren der Norweger Reidar Andersen auf dieser Anlage um einen Meter und der Österreicher Fritz Kainersdörfer am Ponte di Legno um einen halben Meter an der magischen Marke gescheitert.
Als Top-Favorit wurde der norwegische Doppel-Olympiasieger Birger Ruud gehandelt. Doch seit 1924 gab es zwecks Vereinheitlichung von Wettkampfkriterien die FIS, und Reglement-Wächter zeichnet in erster Linie Konservatismus aus. Der FIS-Präsident aus Norwegen, Major Oestgaard, machte seinen Landsleuten einen Strich durch die Rechnung, indem er kurz vor Beginn des Wettkampfes das Verbot von Sprüngen über 80 Meter bekräftigte – ungeachtet der Tatsache, dass Ruuds Bruder, Sigmund, bereits 1931 weiter gesprungen war und sich schon deswegen wohl niemand um diese fortschrittshemmende Weisung kümmern wird.
Doch die norwegische Mannschaft zog die Nennung ihrer Sportler zurück. Der 18jährige Sepp Bradl segelte am Nachmittag des 15. März 1936 auf 101,5 Meter. Die Sportart hatte sich so eben vom Springen zum Fliegen gewandelt. Zwei Jahre später verbesserte Bradl in Planica den Weltrekord auf 107 Meter, 1939 in Zakopane gewann er als erster Nicht-Norweger bei einer Großveranstaltung und wurde Weltmeister. Nach dem Krieg entschied er das erste Kulm-Springen (1950) und die erste Vier-Schanzen-Tournee (1953) für sich.
Bis in die Achtzigerjahre gab es fast ausschließlich zwischen Planica und Oberstdorf einen Zweikampf darum, welche Schanze die weiteren Sprünge zuließ. Seit 1985 hat Planica sozusagen ein Abonnement auf Weltrekorde. Hier fiel 1994 die 200-m-Marke durch den Finnen Toni Nieminen, hier steht seit dem Vorjahr die aktuelle Bestweite von 225 Metern durch Andi Goldberger, der sechs Jahre zuvor zwar so weit wie kein anderer vor ihm gesprungen, aber bei 202 Metern gestürzt war.
Geändert hat sich seit Bradls Flug so gut wie alles. Die Schanzen sind umgebaut worden, Schier und Schuhe sowieso in permanenter Entwicklung, 1962 wurden der Kopfschutz und 1974/75 von den Österreichern die Overalls eingeführt. Die Arme rudern (sofern alles glatt geht) schon längst nicht mehr in der Luft, und seit der Schwede Jan Bokloev 1987 den V-Stil kreiert hat, ist selbst die parallele Schiführung passé. Einzig die Telemark-Landung, 1883 von Torju Torjussen eingeführt, hält sich bis heute als sichtbarstes Zeichen dafür, dass in diesem Sport nicht nur der größte messbare Wert, sondern auch die Ästhetik Bestandteil des Erfolges ist.

Erschienen in DER STANDARD, 16.3.2001