American Nightmare '74

Vier Jahre nach Jochen Rindt verlor Österreich mit Helmut Koinigg den zweiten Formel-1-Piloten

Oktober 1974, in Watkins Glen hatte es geschneit. So früh war das in dem ehemaligen Goldgräbernest im US-Bundesstaat New York Anfang der Siebziger schon einmal der Fall gewesen. Allerdings ein Jahrhundert zuvor. Damals hatten hier Einwanderer vor allem aus Italien ihr Glück versucht. Nun schoben die Räumdienste zu Beginn des Rennwochenendes den bis zu zwanzig Zentimeter hohen Schnee vom Kurs, um im Finale der Formel-1-Weltmeisterschaft 32 Fahrern die Jagd auf eine Börse von umgerechnet sechs Millionen Schilling freizugeben. Am Freitag kam auch wieder die Sonne heraus, und der US-amerikanische Parnelli-Pilot Mario Andretti knallte die erste Trainingsbestzeit auf die aufgetrocknete Piste. Die Titelanwärter hielten sich zurück: Regazzoni Siebenter, Fittipaldi Achter. Doch Freitag ist Freitag, und Samstag ist Samstag. Das war damals nicht anders, als es heute ist. Das Freitag-Training kannst du vergessen, weil am Samstag geht’s um die Wurscht, sprich um die Pole. Und die sicherte sich der Argentinier Carlos Reutemann auf Brabham vor dem unerwartet starken britischen Hesketh-Piloten James Hunt. Die WM-Rivalen eher verhalten, aber eng bei einander. Fittipaldi Vierter, Regazzoni Sechster. Schien Spannung fürs Rennen zu versprechen. Für die Österreicher hingegen war’s gelaufen. Lauda rutschte von der zweiten Startreihe zurück in die fünfte. Koinigg, der tapfere Surtees-Mann, von der neunten in die zwölfte.
Bis Oktober ´74 hatte Watkins Glen bei den Österreichern mehr als einen Stein im Brett. Jochen Rindt gewann 1969 auf dieser Strecke seinen ersten Grand Prix, und ein Jahr später sicherte Fittipaldi dem Österreicher hier mit seinem Sensationssieg den Weltmeistertitel. Freilich posthum. Denn davor war der 5. September in Monza gewesen. Parabolica, gebrochene Bremswelle. Aus. Eine Woche später das Begräbnis in Graz. Bei der Verabschiedung am Zentralfriedhof die Rennsportprominenz von Jack Brabham bis Graham Hill. So einer wie Jochen kommt nie wieder.
Doch Anfang der Siebziger rasten junge Österreicher durch das Tor, das Rindt aufgestoßen hatte, aus versteckten Hinterhofgaragen auf die Rennstrecken und in das Licht der Öffentlichkeit. Der Grazer Helmut Marko gewann 1971 die 24 Stunden von Le Mans. Im gleichen Jahr startete er am Österreichring auf einem BRM zu seinem ersten Grand Prix. Mit ihm gab ein weiterer Österreicher sein Formel-I-Debut: Niki Lauda auf March. Markos Rennfahrer-Karriere war 1972 zu Ende, als ihm in Clermont-Ferrand ein von Ronnie Petersons Wagen aufgewirbelter Stein das linke Auge ausschlug. Auch Laudas Formel-I-Dasein schien dem Bach hinunter. Zwei verkorkste March-Saisonen, immer langsamer als sein Stallgefährte Peterson, Erklärungsversuche für die schlechten Platzierungen von den Journalisten als faule Ausreden abgetan, von den meisten Sponsoren verlassen. 1973 stand Lauda ohne Team, dafür mit einem Haufen Schulden da. Dann die legendäre Aktion im Schwechater Flughafenrestaurant, als sich Lauda mit Hilfe von Karlheinz Oertel, Werbemann der Raiffeisenbank (bei der Lauda mit bereits zweieinhalb Mille in der Kreide stand) in ein BRM-Cockpit einkaufte. 1973 zeigte Lauda, was ihm bis dahin abgesprochen worden war: Talent. In Zolder Fünfter und die ersten WM-Punkte. In Monte Carlo sicherer Dritter vor Jacky Ickx, bis ihn ein kaputtes Getriebe aus dem Rennen warf. Im Regentraining von Zandvoort Bestzeit! Das alles sprach sich bis Maranello durch. Enzo Ferrari bot ihm einen Vertrag für 1974 an. Lauda, der nach seinem Husaren-Ritt in Monte Carlo gerade erst einen Drei-Jahres-Vertrag mit BRM-Chef Louis Stanley unterzeichnet hatte, griff zu. So eine Chance kommt nie wieder!
Drei Jahre nach Lauda und Marko gab 1974 der nächste Österreicher in Zeltweg seine Premiere. Dieter Quester, Held zahlreicher Formel-II- und Tourenwagenrennen und bis heute Racing-Evergreen, bekam bei Surtees seine Chance. John Surtees war als Fahrer eine Institution gewesen. Er hatte geschafft, was bis dato sonst keinem gelungen ist: Weltmeister auf zwei und auf vier Rädern. Siebenmal auf dem Motorrad und 1964 das Championat auf Ferrari. Doch als Rennstallbesitzer lieferte er eine Niete nach der anderen. Einsteigermodelle für den Nachwuchs, schlampig gewartet und also defektanfällig, mit einem Wort: Gurken. Quester wagte das nach einem neunten Platz beim Österreich-Grand-Prix öffentlich auszusprechen. Obendrein nannte er seinen Chef ein Schlitzohr. Als Big John davon erfuhr, war Quester Surtees-Fahrer gewesen. Vor ihm hatten Carlos Pace und Jochen Mass das Team freiwillig verlassen. Wegen der Sicherheit, die diese Wagen eklatant nicht aufwiesen.
Doch so schlecht Schüsseln wie jene von Surtees auch sein mochten, unterzukriegen waren sie kaum. Denn da war der so genannte Nachwuchs. Junge, talentierte Männer, die von Ferrari, Lotus oder Tyrrell träumten und wussten, dass die hohen Weihen nur jenem zuteil wurden, der sich zuvor als Underdog in einem miesen Team mit einem oft fiesen Vertrag gegen die noch viel fiesere Konkurrenz behauptete. Und überlebte. Vor den Ferrari hat der Herr den Surtees gesetzt. - Der Unterschied? Bei Ferrari spekulierst du mit dem Sieg. Bei Surtees bist du froh, wenn du das Training überlebst, dich beim Rennstart aus der vorletzten Reihe nicht einer aus der letzten abschießt und deine Pneus wenigstens solange auf den Felgen bleiben, bis du zum Rausfliegen auf der Geraden bist.
Das alles wusste Helmut Koinigg, als er im Spätsommer ´74 von Surtees zu Testfahrten nach Goodwood eingeladen wurde. Koinigg überzeugte und bekam einen Vorvertrag. Dass der 25jährige Publizistik- und Maschinenbaustudent hochbegabt war, Autos mit High-Speed über die Strecke zu prügeln, war bekannt. Als der junge Mann fünf Jahre zuvor in Aspern Laudas alten Cooper um den Flugplatzkurs jagte, avancierte er sofort zum Publikumsliebling.
Ausschlaggebend dafür waren zwei Dinge, die ihm fehlten: Die Frontscheibe und der Respekt. Es gab Zeiten, da hielt man Koinigg für das größere Talent als Lauda. Damals, als Lauda im March im hintersten Fahrerfeld herumtümpelte, oft genug ausfiel oder Letzter wurde. Während das Industriellensöhnchen in der Presse durch den Kakao gezogen wurde, indem man ihm unterstellte, dass er „Tempo 100 auf Rennstrecken“ fordere, mischte der studierende Sunnyboy die unteren Klassen auf. Hopp oder tropp - wenn er nicht rausflog, war er der Schnellste. Als Lauda die Formel III sein ließ, weil dort nur Tepperte unterwegs wären, reifte Koinigg unter den Fittichen von Kurt Bergmann zum Formel-Super-Vau-Weltmeister. In Zeiten, als man Oertel wegen seines Engagements für Lauda mit jemandem verglich, „der im Casino auf eine Zahl setzt, die es nicht gibt“, griff man sich an den Kopf, warum sich für Koinigg kein potenter Sponsor auftreiben ließ.
1974 war alles ganz anders. Lauda, der gewissermaßen als Rennstall-Spekulant aufgetreten war und seine persönliche Aktie mit Millionen gepusht hatte, die ihm eigentlich nicht gehörten, war zum Nationalhelden und Ferrari-Star avanciert. In seiner ersten Saison für die roten Renner aus Maranello startete er neunmal aus der Pole-Position, gewann auf Grund außerordentlichen Pechs nur zwei Rennen und führte daher in der WM nur vorübergehend. Als Lauda schon siebenstellige Gagen verbuchen konnte und dafür zwecks Steuerschonung eigens eine Firma in Hongkong gründen musste, freute sich Koinigg über anerkennende Worte aus berufenem Munde. Als er erfuhr, dass er den amerikanischen Rennsportpapst Roger Penske außerordentlich beeindruckt hatte, gab ihm das Berge.
Manchen schien das naiv. Doch in dieser Hinsicht war Koinigg konservativ: „Ich investiere nicht auf Kredit. Woher soll ich die Millionen nehmen, wenn’s schiefgeht?“ Er war davon überzeugt, mit guten Leistungen nach oben zu kommen. Das machte ihn sympathisch. Wie es überhaupt niemanden zu geben schien, der den immer gut aufgelegten jungen Mann nicht mochte. Am meisten gefreut hatte sich Koinigg nach seinem gelungenen Einstand in Mosport, als nach dem Rennen Fittipaldi zu ihm kam und sagte: „Du warst also der mit dem schwarzen Helm, an dem ich rundenlang nicht vorbeikam.“ Ja, schwarzer Helm mit aufgemalten weißen Herzen. Charmant, ein bisschen romantisch. Seit wenigen Monaten war er mit Gabi verheiratet, einer Stewardess bei der AUA. „Sie verdient, was ich im Rennsport ausgebe“, scherzte er.
Als er nach dem Abschlusstraining in Watkins Glen zwei Stunden lang vergeblich versuchte, eine Telefonverbindung mit ihr zu bekommen, war er wirklich traurig. So gerne hätte er ihr mitgeteilt, dass ihm Surtees einen Zwei-Jahres-Vertrag angeboten hatte. Und so gerne hätte er ihr gesagt, dass sich zwar in der gleichen Kurvenfolge, in der im Vorjahr Francoise Cevert verunglückt war, bei Tempo zweihundertfünfzig ein Reifen verabschiedet hatte, er im Gegensatz zum Franzosen aber noch am Leben sei. Ach, dieses „noch“ – an wie vielen Sollbruchstellen dieses Wörtchen doch hing! Und an wie viel Glück, das jeder Fahrer nur in unbestimmtem Ausmaß genoss. In dieser Saison hatte es schon einer nicht mehr gehabt: Peter Revson in Südafrika.
Sonntag, 6. Oktober 1974. McLaren und Ferrari im üblichen Psycho-Geplänkel. In den Zeitungen war von Ferraris „fünfter Kolonne“ zu lesen. Dass Lauda für Regazzoni fahren würde, war klar. Doch Luca di Montezemolo, damals noch blutjunger Ferrari-Rennleiter, sammelte auch andere Fahrer als Defensivkräfte gegen Fittipaldi. „Andretti, Merzario und Brambilla werden für uns fahren“, tönte der Römer, „sie brauchen nur noch etwas Gehirnwäsche.“ Bei McLaren gab man sich gelassen: „Bei Punktegleichstand ist Emerson auf Grund der WM-Arithmetik Weltmeister. Außerdem kann er unter Druck schneller fahren als Clay.“ Allerdings hatten wegen der unebenen Strecke fast alle Teams mit gelockerten Schrauben und wackeligen Heckflügeln zu kämpfen. Das WM-Finale schien eine Materialschlacht zu werden. McLaren installierte als erstes Team der Formel I eine Sprechfunkverbindung, damit der Fahrer auftretende Defekte sofort an die Box melden könne, Surtees sicherte die Schrauben für die bevorstehenden 59 Runden mit einem Metallkleber.
Als der Grand Prix der USA gestartet wurde, war man hierzulande nicht live dabei. Die Eurovision konnte sich mit der brasilianischen Fernsehgesellschaft auf keinen Vertrag einigen. Dem ORF waren die 180.000 Schilling, die man der TV-Globo für die Rechte hätte hinblättern müssen, zu viel. Einzig das Schweizer Fernsehen übertrug die Titelentscheidung. Die Eidgenossen wollten Regazzoni als Weltmeister selbstverständlich live abfeiern.
Es kam anders. Reutemann führte vom Start bis ins Ziel, beide Ferraris schieden aus, Fittipaldi wurde, ohne viel riskiert zu haben, Vierter und nach 1972 zum zweiten Mal Weltmeister.
Was zum großen Fest für den Brasilianer werden sollte, endete mit einer Trauerfeier. Helmut Koinigg hatte mit seinem Wagen vom Start weg Probleme. Nach wenigen Runden lag er vierzig Sekunden hinter Graham Hills Lola am Ende des Feldes. – Als er das neunte Mal durch die „Hufeisenkurve“ fuhr, platzte am Surtees ein Reifen. Wahrscheinlich links hinten. Es muss für Koinigg völlig unerwartet gekommen sein. Nur kurze Bremsstreifen, keine Lenkkorrektur. Mit kaum mehr als hundert Stundenkilometern rutschte der Surtees frontal gegen die dreiteiligen Leitplanken. An sich harmlos. Im Training waren hier schon Regazzoni, Beltoise und Andretti rausgeflogen, und nix war passiert. Doch nun lösten sich beim Anprall die Bolzen aus den Halterungen der unteren beiden Stahlbänder, der Wagen schoss durch, das bestehen gebliebene obere Stahlband schlug dem Piloten den Kopf ab.
Die Vorwürfe gegen den Veranstalter kamen für den jungen Wiener zu spät. Die Warnungen, die vor dem Rennen die Fahrer und sogar Fittipaldis Gattin Helena machten, waren ungehört – und die „todbringenden Sicherheitsschienen“ bestehen geblieben. Zur Generation jener Rennfahrer, die eine Zielankunft mit dem Ruhm eines der Schlacht entkommenen Helden verbrämten, gehörte Koinigg trotz wilder Ausritte in seinen jungen Jahren nicht. Nur kurz in der Formel 1, zählte er zu den Vorkämpfern für die Sicherheit der Fahrer. Das Bewusstsein dafür steckte damals allerdings noch in den Kinderschuhen. Zur GPDA-Sitzung vor dem Rennen waren nur fünf Fahrer gekommen. Darunter Lauda und Koinigg. Ihren Hinweisen auf die Sicherheitsmängel wurde quasi erwidert: „Wer die Hosen voll hat, soll im Hotel bleiben.“ Am Sonntag, dem 6. Oktober 1974, fiel der 25jährige Student aus Wien dieser Ignoranz zum Opfer.

Erschien in gekürzter Form in DER STANDARD, 6.10.1999